Ben Leyland, Senior Fund Manager des JOHCM Global Opportunities Fund bei J O Hambro

"Der MSCI Europe notiert mit Abschlag von 30 Prozent gegenüber dem MSCI USA"

Verkehrte Welt? Europa-Aktien steigen, US-Titel fallen. Wie ist es um europäische Aktien bestellt, Ben Leyland, Senior Fund Manager des JOHCM Global Opportunities Fund bei J O Hambro?

In einem von geopolitischen Spannungen und Handelskonflikten geprägten Umfeld erleben europäische Aktien ein bemerkenswertes Comeback. Was sind die Gründe dafür?

Ein wesentlicher Treiber für die Outperformance europäischer Aktien im laufenden Jahr ist die Reaktion Deutschlands auf die geopolitischen Spannungen, speziell die Entscheidung für konjunkturbelebende Maßnahmen, da man erkannt hat, dass das exportorientierte Wirtschaftsmodell angepasst werden muss und mehr Eigenständigkeit erforderlich ist. Die Abkehr von Sparmaßnahmen und der Schuldenbremse hin zu umfangreichen Ausgaben für Infrastruktur und Verteidigung weckt Hoffnung, dass das BIP- und Gewinnwachstum mittelfristig anziehen könnten, insbesondere wenn man Multiplikatoreffekte beim Konsumverhalten und bei tieferen Kapitalmärkten berücksichtigt. Der Verteidigungssektor dürfte der sichtbarste Nutznießer sein, aber diese Entwicklungen werden einer Vielzahl von Unternehmen in den sogenannten „Realwirtschaftssektoren” wie Industrie, Rohstoffe und Infrastruktur zugutekommen, die einen recht großen Anteil an den europäischen Aktienindizes ausmachen.

Wie sieht es aktuelle mit der Bewertung des europäischen im Vergleich zum US-amerikanischen Aktienmarkt aus?

Auf Indexebene werden europäische Aktien seit vielen Jahren mit einem erheblichen Abschlag gegenüber US-Aktien gehandelt, was durch den Ausverkauf im vierten Quartal des vergangenen Jahres noch verstärkt wurde. Der MSCI Europe notierte im Dezember mit einem Abschlag von über 40 Prozent gegenüber dem MSCI USA. Diese Lücke hat sich teilweise geschlossen, beträgt aber weiterhin 30 Prozent bzw. nach Bereinigung um Unterschiede in der Indexzusammensetzung rund 20 Prozent. Wir halten dies nach wie vor für zu groß und glauben, dass sie die zu erwartende Beschleunigung des Gewinnwachstums nicht widerspiegelt.

Tipp: In der Extra-Magazin-Ausgabe 6/2025 werden wir uns ansehen, ob europäische Aktien jetzt spannend sind und ob man US-Aktien abstoßen sollte. Die Ausgabe erscheint Ende Juli. Hier geht es zum Shop.

Für Europa dürfte aktuell neben der Bewertung auch der fiskalpolitische Aspekt sprechen. Wie stehen Sie dazu?

Wir stimmen zu – fiskalische Impulse sind eine einschneidende Veränderung und könnten das Gewinnwachstum, das Aktienanleger mittel- bis langfristig in Europa erwarten, grundlegend verändern. Wir würden dabei deutlich zwischen Deutschland, das aus einer sehr soliden Bilanzposition heraus seine fiskalischen Impulse verstärken kann, und den USA unterscheiden, wo die Märkte allmählich erkennen, dass das Land nach vielen Jahren, in denen sie das „exorbitante Privileg” der Kontrolle über die Weltreservewährung genossen haben, in hohem Maße von ausländischen Finanzmitteln abhängig ist.

Was ist von der Zinsseite in Europa zu erwarten und welche Auswirkungen könnten sich daraus für die Börsen ergeben?

Die Zinsen in Europa sind seit dem letztem Jahr aufgrund der nachlassenden Inflation gesunken, bleiben jedoch in einem „normalen“ Bereich, der deutlich über dem Niveau der Null- oder Negativzinsen liegt. Mit Blick auf die Zukunft werden eindeutig die makroökonomischen Aussichten und die Entwicklung der Zölle einen wichtigen Einfluss auf die künftige Zinsentwicklung haben. Kurzfristig ist zu beachten, dass Zölle einen deflationären Nachfrageschock für die europäische Wirtschaft darstellen würden, auf den die typische Reaktion eine Zinssenkung wäre.

Tipp: Hier findest du unsere ETF-Empfehlungen für den europäischen Aktienmarkt.

Für die USA würden Zölle dagegen wahrscheinlich einen inflationsfördernden Angebotsschock bedeuten, der aus politischer Sicht schwerer zu bewältigen ist. Längerfristig erwarten wir, dass ein Zyklus von Kapitalinvestitionen und Infrastrukturerneuerungen in den kommenden zehn Jahren zu einer höheren durchschnittlichen Inflation und höheren Zinsen führen wird als in der Zeit nach der globalen Finanzkrise. Dies ist teilweise auf eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Ersparnissen und Investitionen sowie auf eine Verschiebung der Kapitalströme zurückzuführen.

Weiter ist jedoch das Thema der Zölle noch nicht ganz geklärt. Wie schätzen Sie diesen Aspekt in Bezug auf den europäischen Aktienmarkt ein.

Wir sind der Meinung, dass die derzeitige Unsicherheit in Bezug auf Zölle zugunsten von Unternehmen mit starkem Binnenmarktfokus spricht und nicht zugunsten von internationalen Geschäftsmodelle, die in lange, komplexe Lieferketten eingebunden sind. Beispiele hierfür sind Infrastruktur-, Vertriebs- oder Werkstoffunternehmen, die typischerweise deutlich lokaler aufgestellt sind als etwa die Automobil- oder Halbleiterindustrie.

Welche Bereiche sind am europäischen Aktienmarkt derzeit aus Anlegersicht spannend?

Wir glauben, dass einige der interessantesten Bereiche des globalen Aktienmarktes die „Realwirtschaftssektoren“ wie Rohstoffe und Industrie sind, die von fiskalischen Impulsen und Infrastrukturausgaben besonders profitieren dürften. Aufgrund ihrer Entwicklung in den zehn Jahren nach der Finanzkrise gelten diese Sektoren nach wie vor als wachstumsschwach und kapitalintensiv. Doch mit einer veränderten Nachfragesituation dürften sie nicht nur ein beschleunigtes Umsatzwachstum verzeichnen, sondern auch steigende Margen und Renditen infolge einer besseren Auslastung.

Eine weitere Chance sehen wir in Sektoren, die nach der Pandemie einen längeren Überhang an Lagerbeständen zu bewältigen hatten, wie Life Sciences, Spirituosen oder analoge Halbleiter. Wir gehen davon aus, dass diese Gegenwinde eher vorübergehender als struktureller Natur sind und die Bewertungen daher auf ein sehr interessantes Niveau gesunken sind.

Wir haben nun viel über die positiven Aussichten für europäische Aktien gesprochen. Sollte man im Umkehrschluss US-Aktien derzeit reduzieren?

Das hängt stark von der Ausgangslage ab. Wir glauben nicht, dass alle US-Aktien überbewertet sind oder dass die Argumente für das Ende der Sonderstellung der USA so überzeugend sind, dass Anleger US-Vermögenswerte komplett meiden sollten. Tatsache ist jedoch, dass viele Portfolios nach wie vor viel zu stark in US-Aktien konzentriert sind, zum einen, weil diese in den letzten anderthalb Jahrzehnten so hohe Renditen erzielt haben – was durch den sehr starken US-Dollar noch verstärkt wurde –, weil US-Aktien mittlerweile einen enormen Anteil an globalen Aktienindizes ausmachen, die viele als Grundlage für ihre Portfolioaufstellung verwenden.

Tipp: Mit dem extraETF Portfolio Tracker kannst du deine Investments analysieren und dein Vermögen an einem Ort überwachen – einfach, schnell und sicher.

Wir halten eine langfristige Vermögensallokation von 65 bis 70 Prozent in einem einzigen Land nicht für sinnvoll, aber bisher war dies durch das unterschiedliche Gewinnwachstum zwischen den USA (insbesondere im Technologie- und verwandten Sektoren) und dem Rest der Welt gerechtfertigt. Wir glauben, dass diese Argumentation nicht mehr stichhaltig ist und überdacht werden muss. Gleichzeitig gewinnen die seit Langem bestehenden Bewertungen zugunsten von Nicht-US-Aktien an Glaubwürdigkeit, da sich die Gewinnwachstumslücke zunehmend schließt.