7. Oktober 2022
Carsten Mumm: "Ende 2023 werden die Aktien höher stehen als heute"

Carsten Mumm: "Ende 2023 werden die Aktien höher stehen als heute"

Inflation, Lieferprobleme bei Gas, Winter-Rezession. Wie geht es weiter am Aktien-Markt? Carsten Mumm, Chefvolkswirt der Privatbank Donner & Reuschel, im Gespräch.

Herr Mumm, die Inflation ist weiterhin hoch in der Eurozone, was bedeutet das aus Ihrer Sicht für den Aktien-Markt?

In meinen Augen ist die Inflation an sich nicht so sehr relevant für den Aktienmarkt, sondern eher das, was die Inflation nach oben treibt, also die Ursachen. Ich denke vor allem an die explodierenden Energie- und Rohstoffpreise. Das hat Rückwirkungen auf den Aktienmarkt und befeuert die Verunsicherung. Der private Konsum dürfte im Winter deutlich zurückgehen. Die bisherigen Konjunkturstützen wie etwa Dienstleistungen, Veranstaltungen, Gaststätten oder Urlaub fallen dann weg. Und dann flattern noch die Nebenkostenabrechnungen ins Haus. Auf Unternehmensebene zeichnet sich ein ähnliches Bild, da hört man schon von Energiepreis-bedingten Insolvenzen. Gerade energieintensive Branchen haben dadurch natürlich ein wirklich großes Problem und halten sich mit Investitionen zurück. Ein weiterer Aspekt wird die Politik der Notenbanken sein. Die Zinsen werden wohl weiter steigen, was den privaten Konsum außerdem ausbremsen dürfte.

All diese Aspekte werden wahrscheinlich in die Winter-Rezession führen. Wie gravierend sehen Sie diese auf uns zukommen?

Die Winter-Rezession ist so gut wie sicher. Wie tief die Rezession ausfällt, hängt in meinen Augen von einigen Unwägbarkeiten ab, die  schwer vorhersagbar sind. Der größte Hebel ist natürlich das Thema Gas und wie auskömmlich wir im Winter mit Energie versorgt sind. Dann gibt es noch die Nachfrageseite und damit verbunden die Frage, inwieweit wir den Verbrauch senken können. Das hängt wiederum von den Temperaturen in den Wintermonaten ab. Und auch Corona ist noch nicht ganz durch.

Ein Trend, den Sie angesprochen haben, sind steigende Zinsen. Sollten Anleger deshalb Ihre Portfolios umstrukturieren?

Unser Rat an Anleger ist seit Jahren, verstärkt auch auf Sachwerte zu setzen und klassische verzinsliche Anlagen herunterzufahren, da wir aus einer Zeit von Null- und Negativ-Zinsen kommen. Jetzt kann man natürlich festhalten: Wir haben mittlerweile wieder positive Zinsen und ich gehe auch davon aus, dass die Leitzinsen weiter steigen werden. Doch die Inflation ist höher als die Zinsen. Unter taktischen Gesichtspunkten ist es im Moment durchaus sinnvoll, Risiko herauszunehmen, also nicht voll investiert zu sein.

Mit welcher Einstellung sollten Anleger derzeit an die Märkte herantreten?

Wir sind wie gesagt nach wie vor der Meinung, dass man verzinsliche Anlagen weiterhin unterrepräsentieren sollte. Damit bleiben die realen Anlageklassen im Fokus und deswegen eben auf Depotebene vor allem Aktien. Auch Edelmetalle sollten auf der Liste stehen. Wer möchte, kann ebenso Kryptowährungen mitaufnehmen.

Thomas Brummer (links) im Gespräch mit Carsten Mumm (rechts).
Thomas Brummer (links) im Gespräch mit Carsten Mumm (rechts).

Sie halten also auch Kryptowährungen für interessant?

Ich gehe davon aus, dass Kryptos innerhalb der nächsten fünf Jahre wahrscheinlich zu einer Standard-Asset-Klasse werden und damit auch zu einem Standard-Baustein in einem breit gestreuten Portfolio aufsteigen werden. Einen Anteil von zwei bis vier Prozent halte ich für vertretbar. Bitcoin und Ethereum werden sicher bleiben, dennoch gilt es auch bei Kryptos zu streuen.

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Der Jahreswechsel steht vor der Tür. Was erwarten Sie vom Börsenjahr 2023?

Man muss versuchen, durch diesen Krisendschungel zublicken. Und wenn wir dahinter schauen, dann taucht eine durchaus positive Perspektive auf. Diese ist mittelfristig betrachtet, dass ich erwarte, dass sich die konjunkturelle Situation global und in Europa ab dem Frühjahr stabilisiert. Da sollten wir tendenziell weniger negative Wachstumsraten sehen. Im weiteren Jahresverlauf sind positive Wachstumsraten wahrscheinlich. Das ist in meinen Augen die Perspektive, die Anleger frühzeitig schon annehmen sollten, also Richtung Jahresende, da die Kapitalmärkte Entwicklungen drei bis sechs Monate vorwegnehmen. Meine Erwartung ist, dass wir am Jahresende 2023 höher stehen als heute.

Bleiben wir beim Ausblick. Welche alten und neuen Trends erwarten Sie im Jahr 2023?

Die alten Trends sind vor allem die Sorgen, die wir jetzt haben. Das ist und bleibt natürlich die Belastung durch den Ukraine-Konflikt. Ich gehe davon aus, dass sich dieser nicht innerhalb weniger Wochen oder Monate auflösen wird. Der Konflikt hat natürlich weitere Auswirkungen. Wir werden mit Sicherheit die günstige Energie durch die Pipelines aus Russland nicht mehr bekommen, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Viele Unternehmen haben sich bereits aus Russland verabschiedet. Das birgt schon eine längerfristige notwendige Transformation.

Die Kernfrage wird sein: Wie hartnäckig hält sich die hohe Inflation? Und damit eng zusammenhängend: Was machen die Notenbanken? Diese sind so konditioniert, dass sie klar sagen: Wir bekämpfen in erster Linie die Inflation und wir nehmen in Kauf, dass wir eine wirtschaftliche Abschwächung erzeugen, vielleicht sogar eine Rezession. Die Basisannahme ist, dass wir doch Stück für Stück im Laufe des nächsten Jahres sinkende Inflationsraten sehen und dann dieser ganz große Druck von den Notenbanken verschwindet. Das Risiko ist, dass die Inflation dauerhaft sehr hoch sein wird. Wenn wir noch weiter als 2023 in die Zukunft blicken, so ist es für Anleger sicher ratsam, in Aktien von Unternehmen zu investieren, die sich in der Transformationsphase befinden.

Ein Transformationsprozess ist sicher auch die Bestrebung nachhaltiger zu wirtschaften.

Genau, das ist ein weiterer Aspekt. Es kommen aber auch etliche andere Dinge, etwa die Demographie oder die Zinswende. Ich glaube, das ist nicht irgendeine Zinswende oder Zinsvolatilität, die wir hier sehen. Ich denke, wir haben gerade einen vierzigjährigen Zinssenkungstrend beendet. Die Zinsen werden tendenziell höher ausfallen. Wir haben letzten Endes auch einen Schwenk in Verteilungsfragen. Ich glaube, dass wir sehr viel mehr eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik sehen werden. Das heißt: Mehr Regulierung, weniger Markt, höhere Steuern.

Das sind viele große Themen. Worin liegen die Chancen für Anleger?

Unternehmen und Staaten werden enorm viel investieren müssen. Das betrifft etwa die Bereiche Gesundheit, das ist natürlich die Digitalisierung, aber auch Bildung, Forschung und Dekarbonisierung sind Zukunftsthemen. Bei letzterem denke ich etwa daran, Mobilität von fossilen Rohstoffen loszulösen, um idealerweise eine Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Auch hier spielt die Unabhängigkeit von fossiler, russischer Energie eine Rolle. Das sind alles Bereiche, die enormes Investitionspotenzial bergen.

Für Privatanleger runtergebrochen könnte man sagen: Ich führe also am besten ein Welt-Portfolio und setze daneben auf einige Themen-ETFs, was der Core-Satellite-Strategie entspricht?

Ja, genau. Das reine Stock-Picking wird angesichts der Transformationsphase anspruchsvoller. Denn viele Unternehmen werden die falschen Weichen stellen. Es wird wahrscheinlich viele Nokias und Kodaks geben. Aber auf der anderen Seite weckt das gewaltige Chancen für innovative Unternehmen. Daher ist die breitgestreute Core-Satellite-Strategie ein guter Ansatz.