11. Juni 2024
Anleger vor Europa-Flagge: Haben politische Börsen kurze Beine?

Kommt nach der Wahl die Qual? Was die Europawahl für das Depot bedeutet

Europa hat gewählt und es ist kompliziert: Welche Einflüsse die Europawahl auf das Vermögen der Anlegerinnen und Anleger ausüben kann

Obwohl viele Kommentatorinnen und Kommentatoren vor einem Rechtsruck in Europa im Allgemeinen und Deutschland im Speziellen warnten, ist er nun da. Während lediglich die CDU als Volkspartei bei der Europawahl leicht auf 30 Prozent gegenüber dem Ergebnis von 2019 zulegen konnte, verloren Grüne (vorl. Endergebnis 11,9 Prozent), SPD (13,9 Prozent) und FDP (5,2 Prozent) allesamt an Zuspruch – während die AfD um knapp fünf Prozentpunkte auf 15,9 Prozent zulegte. Über den Tellerrand hinausgeschaut gab es im Nachbarland Frankreich sogar erste Konsequenzen. Staatspräsident Emanuel Macron löste in Reaktion auf das weitere Erstarken der Rechtspopulisten das Parlament auf – Neuwahlen stehen also an. Eine schwierige Gemengelage für das Europäische Parlament, Deutschland und Anlegerinnen und Anleger. Was gilt es, nun zu tun? Müssen Anpassungen im Depot her?

Nichts hassen Börsianer mehr, als Unsicherheit. Es gleicht einer ärztlichen Diagnose. Über mehrere Tage oder Wochen plagt man sich mit Schmerzen herum, nimmt dann allen Mut zusammen, um zum Arzt zu gehen und wartet dann auf dessen Urteil. Das über einem befindliche Damoklesschwert trübt die Stimmung. Doch einmal das Ergebnis erhalten, weiß man umgehend, was zu tun ist – und ist im besten Fall erleichtert. Und so ist es auch mit Wahlergebnissen. Politische Börsen haben kurze Beine. Wer kennt diese Börsenweisheit nicht. Und sie stimmt zu einem sehr großen Teil. Wahlen, Krisen und Kriege hat der Dax gut überstanden und ist auch im Superwahljahr 2024 weiter auf Rekordfahrt. Auch der breitgefasste Stoxx Europe 600 hat in den vergangenen fünf Jahren um 36 Prozent zugelegt. In diese Zeit fiel die Corona-Pandemie, der Ausbruch des Ukraine-Kriegs, der Angriff aus Israel und eben jüngste Europawahl.

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Wie fallen die kurzfristigen Reaktionen nach der Europawahl aus?

„Europawahlen haben typischerweise kaum einen kurzfristigen Effekt auf die Kapitalmärkte – und das dürfte 2024 nicht anders sein“, legte sich Frank Engels, Vorstand bei Union Investment bereits im Februar dieses Jahres fest. Hat er recht? Schauen wir uns die kurzfristigen Reaktionen der wichtigsten Börsenbarometer einmal an. Dax, MDax, TecDax und SDax gaben am Montag nach der Europawahl allesamt weniger als einen Prozentpunkt ab. In Frankreich – wie beschrieben plant Emanuel Macron das Parlament aufzulösen – ist das Minus im Leitindex CAC40 höher. Um knapp zwei Prozent ging es im Tagesverlauf gen Südwesten. Der Stoxx Europe 600 notierte wie die deutschen Indizes um weniger als einen Prozentpunkt schwächer. In den USA und Japan interessiert sich der Markt offenbar gar nicht für die Europawahl.  Der Nikkei (Japan) legte zu, der S&P500 blieb flach. 

Auf Einzeltitelebene hatten in einer ersten Reaktion Energie-Werte zu leiden. Dax-Dickschiff RWE, Windkraft-Anlagenbauer Nordex und Solarexperte SMA Solar notierten schwächer. Kein Wunder, denn mit dem schlechten Abschneiden der Ampel-Koalition steht auch deren Umwelt- und Energiepolitik auf dem Prüfstand. Dass sich allerdings schnell am eingeschlagenen Kurs etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Der Atomausstieg ist beschlossen (damals unter Führung der CDU) und der C02-Zertifikatehandel ebnet klar den Weg in Richtung emissionsfreie Gesellschaft. Auch in diesem Zusammenhang dürfte es politisch bald wieder zur Tagesordnung übergehen. 

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Wo liegen Risiken und Chancen?

2024 ist das Superwahljahr. Nahezu die Hälfte der Weltbevölkerung wird an die Wahlurne gebeten. Neben Indien und Europa stehen Ende des Jahres die US-Wahlen an. In Kombination mit den Ergebnissen der Europawahl kann es zu größeren Herausforderungen kommen. Denn fraglich ist, wie sich Europa und die USA hinsichtlich der Unterstützung der Ukraine positionieren werden. Tendenziell gelten weder Donald Trump noch rechte europäische Parteien als Ukraine-Unterstützer. Auch mit Blick auf die Beziehungen zwischen China und USA sehen Kapitalmarktexperten das größere Problem im Rahmen der US-Wahlen. Für Europa und Europas Wirtschaft kommt es nun auf zwei Dinge an:

  1. Können sich die Parteien möglichst schnell auf eine neue (alte?) Kommissionspräsidentin einigen?
  2. In welchem Verhältnis stehen die rechten Parteien in Europa zueinander?

Diesen Fragen geht Holger Schmieding, Chefvolkswirt der Berenberg Bank, in seiner ersten Reaktion nach. Seiner Meinung nach wird die bisherige Kommissionspräsidentin auch die neue sein: Ursula von der Leyen. Sollte es so kommen, wäre das ein Zeichen der Kontinuität. Dass es so kommt ist schwierig zu prognostizieren. Das zersplitterte Parlament sorgt für große Unsicherheit. Viele Parteien stehen sich gegenüber. Auch im rechten Spektrum gibt es keine einheitliche Richtung, was ein Vorteil sein kann. Vertreter der „Mein Land zuerst“-Strategie haben nach Meinung von Schmieding bisher keinen Weg gefunden, effektiv zu kooperieren. Marine Le Pen (Rassemblement National) hat sich vor der Wahl bereits von der AfD distanziert. Sie sei ihr zu radikal. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zeigte zuletzt an die Mitte-Rechts-Fraktion anschlussfähige Positionen. Hier wird sich zeigen, wie der weitere politische Kurs in Europa aussehen wird und welches Gewicht die Aussagen vor der Europawahl nun bei Lichte betrachtet haben.

Was gilt es jetzt für Anlegerinnen und Anleger zu tun?

Positiv gestimmt zeigte sich am Montagmorgen Vincent Mortier (CIO Amundi). Der Chief Investment Officer leitete seinen Marktkommentar mit der Überschrift: „Ausweitung der Aktienrally auf Europa“ ein. Ursächlich seien besser als erwartete Unternehmensgewinne und Zinssenkungen der EZB. „Wir heben unsere diesjährigen Wachstumserwartungen für die Eurozone und das Vereinigte Königreich aufgrund der Binnennachfrage und der nachlassenden Inflation an“, schreibt Mortier. Da ist zumindest schon einmal eine Beruhigungspille für die Märkte.

Für Anlegerinnen und Anleger bleibt es dabei: Wer einen ausreichend langfristigen Anlagehorizont hat und ebenso ausreichend diversifiziert, ist sehr gut aufgestellt. Dass die europäischen Aktien-Indizes nach den (bisherigen) Europawahl-Ergebnissen kein Feuerwerk abbrennen werden, war zu erwarten. Fraglich ist, wie es langfristig aussieht. Doch sowohl europäische-, US-amerikanische- als auch Welt-Aktien-Indizes haben sich auf langfristige Sicht stets als krisenfest und renditestark erwiesen. Es braucht Mut und Zuversicht für ein demokratisches Europa. Und es braucht Mut und Zuversicht bei der Geldanlage. Und für die Geldanlage findest du passende Europa-ETFs in unserer ETF-Suche.