12. Dezember 2024
Droht Europa der Standstreifen und nicht die Überholspur?

Droht Europa der Standstreifen und nicht die Überholspur?

Energiekosten, Regulierung und CO2-Bepreisung werfen Europa zurück. So ist es um die europäische Volkswirtschaft bestellt.

Europa scheint seit der Eurokrise den Anschluss an die USA und die schnell wachsenden Volkswirtschaften Asiens verloren zu haben. Auch bei den Themen technologischer Wandel und künstliche Intelligenz hinkt Europa im weltweiten Vergleich hinterher. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU ist auf US-Dollarbasis von 2013 bis 2023 um 20 Prozent gestiegen, während die US-Wirtschaft über den gleichen Zeitraum ein Wachstum von 60 Prozent erreicht hat. „Der ‚alte Kontinent‘ befindet sich nicht auf der Überholspur, sondern eher auf dem Standstreifen“, stellt Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management, fest. Für Anlegerinnen und Anleger bieten sich aus Sicht des Ökonomen aber dennoch Möglichkeiten in Europa; einige international agierende Unternehmen hätten sehr gute Wachstumsperspektiven und seien günstiger bewertet als vergleichbare US-Firmen. Titelselektion dürfte auch in Zukunft ein entscheidender Erfolgsfaktor für das Investment in europäischen Aktien sein. 

Europa kann Wachstumslücke zu USA nicht schließen

Noch im Frühjahr war die Hoffnung groß, dass Europa zumindest kurzfristig die Wachstumslücke zu den USA schließen könnte. Die Ausgangslage war nach Meinung von Tilmann Galler vielversprechend. „Steigende Reallöhne verkündeten das Ende der Kaufkraftkrise und der Stimmungsindikator des verarbeitenden Gewerbes begann sich von den Tiefständen des letzten Herbstes langsam zu erholen. Doch in den letzten Monaten trübt sich die Stimmung in der Industrie wieder ein“, führt Kapitalmarktexperte Galler aus. Sinnbildlich für die aktuelle Lage sei die kürzlich erfolgte Ankündigung von VW, dass zwei Automobilwerke in Deutschland geschlossen werden könnten. 

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Mehrere Faktoren erklären die anhaltende Schwäche der europäischen Industrie: „Auf der einen Seite sind es globale Faktoren, die auf die Verwerfungen der Pandemie zurückzuführen sind. Das Ende der Corona-Maßnahmen hat zu einer kräftigen Verschiebung der Konsumpräferenz zu Dienstleistungen geführt, weshalb das verarbeitende Gewerbe seit 2022 stagniert“, erklärt Galler. Doch gebe es in Europa auch hausgemachte Probleme, die die Konkurrenzfähigkeit ganzer Industriezweige massiv belasteten. „Energiekosten, Regulierung und CO2-Bepreisung sind die drei maßgeblichen Faktoren in diesem Kontext“, sagt Galler. 

Die energieintensive europäische Industrie leidet unter den substanziell höheren Energiekosten gerade im Vergleich zu den USA. Der europäische Gaspreis pro Megawattstunde liegt trotz jüngster Beruhigung immer noch um das Fünffache höher als der US-Preis. Schuld habe nicht nur der Krieg in der Ukraine, sondern auch die Entscheidung zahlreicher europäischer Staaten, aus der Atomenergie auszusteigen und das Fracking aus Gründen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes nicht zu erlauben.

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Die im internationalen Vergleich hohe Bepreisung von CO2 in der EU sieht Galler als einen weiteren Belastungsfaktor. Der Preis für die Tonne CO2-Äquivalent liegt aktuell bei 65 US-Dollar, während die koreanische und chinesische Konkurrenz nur sechs US-Dollar respektive 10 US-Dollar bezahlen muss. Die USA haben bisher sogar noch gar keine CO2-Bepreisung eingeführt. „So verwundert es eben nicht, dass die Auslagerung von Produktionskapazitäten nach Nordamerika und Asien ganz oben auf der Agenda energieintensiver europäischer Unternehmen steht“, folgert Galler. 

Die Automobilindustrie ist zudem noch durch die rigorose Regulierung der CO2-Emissionen betroffen. Die ambitionierten Grenzwerte der EU für CO2-Emissionen bei Neuwagen stellt die Automobilhersteller mit einem hohen Anteil an Verbrennermotoren an den Neuzulassungen vor große Herausforderungen. „Wenn der Absatz von Elektrofahrzeugen bis Ende 2025 nicht signifikant erhöht wird, drohen Milliardenstrafzahlungen an die EU“, erklärt der Kapitalmarktstratege.

Gewinne in Europa deutlich hinter USA – doch Chancen durch Titelselektion

Die Entwicklung der Marktkapitalisierung und der Ertragskraft europäischer Unternehmen im globalen Vergleich sieht Tilmann Galler deshalb als Spiegelbild der makroökonomischen Entwicklung und ein weiteres Indiz für den schleichenden wirtschaftlichen Bedeutungsverlust des Kontinents. „In den letzten 10 Jahren stiegen die Gewinne der US-Unternehmen im S&P 500 um über 115 Prozent, während Europa nur ein Wachstum von 40 Prozent verzeichnen konnte. Die mangelnde Präsenz in neuen Technologien und die hausgemachte Standortverschlechterung tragen zu der für uns Europäer unerfreuliche Entwicklung bei“, führt Galler aus. 

Doch eine Intensivierung der Technologieförderung und eine maßvollere Regulierung könnten in den kommenden Jahren Europa vom Standstreifen wieder auf die Überholspur bringen. „Dennoch bietet die Region für Investoren zahlreiche Unternehmen, die aufgrund der Branchenzugehörigkeit oder durch ihre internationale Ausrichtung weniger von den Herausforderungen der heimischen Industrie betroffen sind und eine exzellente Zukunftsperspektive aufweisen – und das oft zu einer sehr viel günstigeren Bewertung als die vergleichbaren Stars aus dem US-Aktienmarkt. Titelselektion bleibt deshalb in Europa Trumpf“, fasst Galler zusammen.

Europa und die Wiederwahl von Trump

Durch die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten könnte ebenso Bewegung in den Markt kommen. „Neben den zu erwartenden Handelsrestriktionen ist es insbesondere die Unsicherheit über ihren Eintritt und ihr Ausmaß, welche die Investitionsfreude der Unternehmenslenker senken sollte. Wir werden unsere europäischen und insbesondere die deutschen Wachstumsraten für 2025 daher leicht reduzieren“,  sagt Björn Jesch, Global Chief Investment Officer bei DWS. Als positiv könne man die Hoffnung äußern, dass eine weitere Trump-Präsidentschaft den Reformwillen in Brüssel und Berlin vorantreiben könnte.

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